4-Tage-Woche, 5-Stunden-Tag und die Rückkehr zur Stechuhr

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Zu Beginn eines neuen Jobs vereinbaren wir in aller Regel mit dem/r Arbeitgeber*in eine gewisse Anzahl an Arbeitsstunden, die wir pro Woche leisten möchten. Aus dieser Zahl ergibt sich unser Gehalt und beides zusammen wird dann im Arbeitsvertrag festgehalten und mit unserer Unterschrift als fix und erledigt erachtet. Glückliche haben 30 Tage „Erholungsurlaub“ (schon allein dieser Begriff lässt mich Ausschlag kriegen), andere wenige, nicht ganz so Glückliche vielleicht auch nur 25. Im Laufe unserer Tätigkeit merken wir dann schnell, dass die ursprünglich vereinbarte Zahl (wir gehen zwar alle den unterschiedlichsten Hobbies nach, haben verschiedene Lebensstile und Ansichten von Arbeit, aber komischerweise sind es dann doch bei den meisten von uns 40) eine Illusion war und verlangen mehr Geld oder ein Überstundenkonto, in der Hoffnung, dass das alles in Ordnung bringt. Ein Arbeitgeber im Raum Ostwestfalen hat z.B. vor kurzem wieder die Stechuhr eingeführt – um kontrollieren zu können, dass die Mitarbeiter*innen auf keinen Fall mehr arbeiten, als sie sollen[1].

Auch ich habe eine wöchentliche Arbeitszeit von 40 Stunden in meinem eigenen Arbeitsvertrag mit Process One stehen und habe diese bis vor kurzem noch nie in Frage gestellt. Geändert hat das eine wachsende Unzufriedenheit, die sich während des Sommers entwickelt hat, eine Zeit, in der bei Process One standardgemäß weniger los ist. Die Arbeit hätte es zugelassen um 13 Uhr den Laptop zuzuklappen - statt das zu tun, hat sich jedoch relativ schnell eine Stimme in meinem Kopf gemeldet, die gesagt hat „Moment mal, da steht aber diese 40 in deinem Vertrag“ und genau die hat dazu geführt, dass ich die letzten zwei Stunden des Arbeitstages unproduktiv rumgedaddelt und alle möglichen wichtigen, aber nicht dringenden Aufgaben auf den nächsten Tag geschoben habe (nur um sie auch dann nicht zu machen). Ich war sehr überrascht von mir und meinem Verhalten, weil ich eigentlich gedacht hätte, dass mir solche Verhaltensweise (auch aufgrund der Zusammenarbeit mit flexibel arbeitenden Selbstständigen und Freiberufler*innen bei Process One) eher fremd sind. Mein Wunsch war es, mich von diesem programmierten Gedankenmuster „Arbeit findet von Montag – Freitag von 9 – 18 Uhr statt“ zu lösen und ohne schlechtes Gewissen (und das war und ist der springende Punkt) am Nachmittag in den See zu hüpfen oder sogar auch mal einen Tag gar nicht zu arbeiten, obwohl eigentlich Montag ist. Denn diese Art des selbstbestimmten Arbeitens setzt produktive Kräfte in mir frei, die sich gut anfühlen, mich auf neue Ideen kommen und kreativ werden lassen – nicht das träge Gefühl, dass ich stattdessen hatte. Wir lernen in der Schule, Ausbildung oder Uni leider wenig über verschiedene Arbeitsmodelle, werden vielleicht sogar eher in Richtung Festanstellung gedrängt, ohne je zu hinterfragen, ob es nicht noch andere Modelle gibt, die „artgerechter“ für mich persönlich sind und bei denen ich am Ende des Monats auch nicht verhungern muss. In mir drängte sich immer mehr die Frage auf, warum wir so gerne an 40h, 35h oder meinetwegen auch nur 20h pro Woche festhalten und was wohl passieren würde, wenn Unternehmen ab sofort keine feste Arbeitsstundenanzahl pro Woche mehr in ihre Verträge schreiben. Wenn es keinerlei zeitlichen Rahmen mehr gäbe und jede*r Mitarbeiter*in selbst dafür verantwortlich ist, darüber zu entscheiden, wie viele Stunden Arbeit es diese Woche benötigt und er oder sie aufgrund privater oder sonstiger Angelegenheiten leisten kann. Natürlicherweise kann dieser Wert nicht jede Woche exakt gleich sein (mal ist mehr zu tun, mal weniger, mal fühle ich mich nicht gut und in der nächsten Woche hat das Kind Geburtstag), noch sollte er über den Lohn am Ende des Monats entscheiden. Was würde sich daraus wohl entwickeln? Theory X würde sagen: totales Chaos, weil alle nur noch nach ihren eigenen Interessen handeln und ihre beruflichen Verpflichtungen vernachlässigen. Wer allerdings dem Menschenbild nach Theory Y Glauben schenkt (so wie dessen geistiger Eigentümer Douglas McGregor es übrigens 1960 schon tat), der/die geht davon aus, dass Menschen verantwortungsbewusst sind, in ihrer Arbeit Erfüllung finden und produktiv sein wollen. Studien zeigen sogar, dass Menschen, die zu viel Freizeit haben, sich oft einen Zweitjob suchen[2].

Ein paar Unternehmer*innen, vorrangig im Ausland (z.B. USA und Island[3]) aber auch in Deutschland[4] schreiten zurzeit voran und nehmen den Trend der Arbeitszeitreduzierung auf. Sie führen die 4-Tage-Woche, den 5-Stunden-Tag oder andere normabweichende Arbeitszeitmodelle ein, werden als Held*innen gefeiert und erhalten New Work Preise dafür. So ein bisschen stelle ich mir ehrlich gesagt die Frage, warum das so ist. Lösen solche Modelle tatsächlich das eigentliche Problem? Ich dachte, es geht um Selbstbestimmung und -verantwortung der Mitarbeiter*innen. Wie selbstbestimmt bin ich, wenn mein*e Arbeitgeber*in mir vorgibt: „Du darfst bei gleichem Gehalt statt 40h nur noch 25h arbeiten, dafür machst du das bitte von 8 – 13 Uhr.“ Was ist denn, wenn ich kein Morgenmensch bin? Oder wenn die Arbeit es auch mal erlaubt, ein paar Tage gar nicht zu arbeiten? Bedeutet das dann, dass ich mir in dieser Zeit Urlaub nehmen MUSS? Oder bin ich nicht eigentlich reif genug, um selbst zu entscheiden, ob es mich heute im „Onlinemodus“ braucht und nicht eine Stundenzahl in meinem Arbeitsvertrag? Genauso die Vertrauensarbeitszeit – sehr sinnvoll, unter Anbetracht der Tatsache, dass nicht alle Menschen zwischen 9 und 18 Uhr produktiv sind, trotzdem bewegen Arbeitnehmer*innen sich auch in diesem Arbeitszeitmodell in einem festen Rahmen von 35, 38,5,40 Stunden, you name it. Für mich sind diese gefeierten Modelle deshalb eher Pflaster auf einer Wunde, die eigentlich hätte genäht werden müssen bzw. - wenn man es ganz genau nimmt -, sollte diese Wunde eigentlich gar nicht erst entstehen.

Hinzu kommt, dass es (zumindest in meiner Welt) mittlerweile diese scharfe Trennung von Work und Life, so wie sie der allseits bekannte Begriff suggeriert, gar nicht mehr gibt. Die Work-Life-Balance ist für mich ein Relikt aus der Vergangenheit, als Arbeit lediglich als Mittel zum Zweck, um Geld zu verdienen, und als Last gesehen wurde. Heutzutage gehe ich nicht mehr 8/9/10h in die Fabrik meinen Dienst machen, um mich danach endlich wieder meinen privaten, freudvollen Aktivitäten zu widmen. Slack, LinkedIn, WhatsApp, Outlook, Kaizala und Co. führen dazu, dass ich mich auch am Wochenende und im eigentlichen Feierabend mit Themen beschäftige, die rein von der Sache her eigentlich eher was mit Arbeit als mit Erholung zu tun haben. Und das nicht, weil mich jemand zwingt, am Wochenende meine LinkedIn App zu öffnen, sondern weil ich völlig intrinsisch gerne mal am Samstagvormittag durch meinen LinkedIn Feed scrolle oder interessante Artikel in der Zeitung oder der Neuen Narrative lese. Der Großteil von diesem Blogbeitrag, den Du gerade liest, ist beispielsweise an einem Samstag entstanden. Nicht weil ich unter der Woche keine Zeit dazu hatte, sondern weil es geregnet hat, ich nach dem Sport zufrieden auf der Couch saß und gerade im Flow war. And guess what? Hätte ich mich gezwungen, den Artikel am Montag und nicht am Samstag zu schreiben, hätte ich wahrscheinlich viel länger gebraucht, mich ablenken lassen und hätte niemals dieses herrliche Produktivitätsgefühl wie am Samstagabend gehabt. Wenn wir doch aus vielen unterschiedlichen Studien wissen, dass der 8h Tag illusorisch ist und niemand so lange am Stück konzentriert arbeiten kann, warum richten wir dann die Arbeitswelt nahezu komplett danach aus? Und wie kann es sein, dass die meisten von uns mental und körperlich gesundheitsfördernde Aktivitäten wie Sport oder Zeit mit Freunden/Kindern/Eltern/Großeltern in die Randzeiten des Tages oder auf das Wochenende legen? Genau so entstehen Gedankenmuster wie „Puh, morgen wieder arbeiten“, die vermutlich alle von uns schon mal am Sonntagabend auf der Couch hatten. Wenn wir glauben, unsere Speicher nur am Wochenende, im Sommerurlaub oder über Weihnachten auffüllen zu können, hat das zur Folge, dass unser Erholungsdruck zu diesen Zeiten besonders groß wird und somit selbst die Regeneration zur Herausforderung wird[5].

An meinen Gedanken in diesem Artikel gibt es natürlich berechtigte Kritikpunkte. Wir können von nahezu überall und zu jeder Zeit den Laptop aufklappen, was uns dazu verleitet, eher zu viel als zu wenig zu arbeiten. Daher können simple Tätigkeiten wie das tägliche Stempeln ein Schutz für die Mitarbeiter*innen vor sich selbst darstellen. Aber auch hier stelle ich mir die Frage, inwieweit das die Lösung des Problems ist. In meinen Augen sind Mitarbeiter*innen viel besser dran, wenn sie sich Kompetenzen aneignen, die sie merken lassen, wann es Zeit für eine Pause ist (und zwar für eine richtige Pause und nicht die Mittagspause mit dem Essen vor dem Laptop), anstatt morgens und abends den fremdgesteuerten Gang zur Stechuhr zu machen. Achtsamkeit würde man dieses Bewusstsein für Regeneration wohl nennen, aber auch damit beschäftigen wir uns, wenn überhaupt in unserer „Freizeit“, z.B. in Form von Meditation oder Yoga. Ein weitaus interessanteres Modell als die 4-Tage-Woche oder den 5-Stunden-Tag finde ich übrigens die Urlaubsflatrate, die manche Unternehmen einführen[6]. Mitarbeiter*innen können sich so viel Urlaub nehmen wie sie wollen, mit der einzigen Limitierung, dass der gesetzliche Mindestanspruch von 20 Tagen (bei einer 5-Tage-Woche) von jedem/r Mitarbeiter*in in Anspruch genommen werden muss. Das Schöne daran ist, dass bei diesem Modell gleich mehrere Aspekte eines New Work Mindsets angesprochen werden, die ich in den anderen beschriebenen Modellen (teilweise) vermisse: Vertrauen, Freiheit, Flexibilität UND Eigenverantwortung. Noch ein weiterer Vorteil für Unternehmen: es gibt nie mehr die Frage nach Resturlaub im neuen Jahr.

Was ich an meinen 40 Stunden im Arbeitsvertrag ändern werde? Ich weiß es noch nicht. Aber schon das Befassen mit dem Thema hat so viel Energie in mir ausgelöst, dass ich mir sicher bin, dass sich irgendetwas ändern wird, auch wenn ich heute noch nicht weiß was. Und während ich diese letzten Zeilen schreibe, denke ich mir gleichzeitig, in was für einer privilegierten Blase ich doch lebe, dass solche „new workigen“ Überlegungen überhaupt für mich in Betracht kommen, wo sie doch für einen großen, benachteiligten Teil unserer Gesellschaft aus finanziellen, persönlichen, kulturellen und noch einigen weiteren Gründen wahrscheinlich nie relevant sein werden[7].

 

[1] https://sz-magazin.sueddeutsche.de/die-loesung-fuer-alles/leute-wollt-ihr-viel-kuerzer-arbeiten-bei-gleichem-lohn-85782

[2] https://enorm-magazin.de/wirtschaft/beruf-arbeit/new-work/funktioniert-die-4-tage-woche

[3] https://t3n.de/news/4-tage-woche-experiment-island-1389822/

[4] New Work Stories – der Podcast zur Zukunft der Arbeitswelt, Folge 49

[5] https://www.linkedin.com/posts/benjaminrolff_newperformance-newwork-gesundeleistung-activity-6826381682468261888-Hq9l

[6] z.B. New Work Stories – der Podcast zur Zukunft der Arbeitswelt, Folge 22

[7] https://www.linkedin.com/posts/gabrielrath_newwork-newworkchat-inklusion-activity-6811559546478297088-0NVy

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