„Wir sind Piloten und sitzen im Cockpit einer Verkehrsmaschine, in dem es zwischen 300 und 900 Knöpfchen und Anzeigen gibt, die uns helfen sollen, die Lage unseres Flugzeugs zu bewerten. Solange alles normal aussieht, ein Routineflug also, geht es mit gut 900 Sachen in zehn Kilometern Höhe und bei minus 50 Grad Celsius Außentemperatur drinnen beschaulich zu. Schön, dass es einen Autopiloten gibt.
Im wirklichen Leben heißen diese Autopiloten Kulturen, Systeme oder einfach Gewohnheiten. Kein Mensch kommt auf die Idee, einen Knopf zu drücken, wenn es läuft, alles geht automatisch. Instrumentenflug.“ So beschreibt Wolf Lotter in seinem brandeins-Artikel „Maßstabsgerecht“ den eingeschwungenen Zustand unserer Gesellschaft und damit auch in vielen Unternehmen als deren Spiegelbild. Führungskräfte sind einerseits System- und Kulturgestalter. Andererseits sind die meisten von ihnen kulturkompatible Produkte, die das System selbst hervorgebracht oder einverleibt hat. Dies setzt kulturelle Anschlussfähigkeit voraus, sonst hätte das System eine Führungskraft längst entkoppelt oder eingekapselt und ausgespuckt. Erfolgreicher Anschluss bedeutet demnach Umschalten auf Autopilot.
Was passiert jedoch, wenn das Unternehmensumfeld zunehmend volatil, unsicher, komplex und ambivalent (VUKA) wird? Wolf Lotter beschreibt das so: „Nun aber gibt es auch oben unausweichlich Ärger, Schlechtwetterzonen, Turbulenzen, Seiten- und Gegenwind, der ganze Kram. Wenn es zu arg wird, sagt der Autopilot – so ist das vorgesehen – einfach Tschüs. Der Instrumentenflug, den die Fachleute auch Blindflug nennen, ist zu Ende. Nun hat der Mensch wieder das Ruder in der Hand, und das Einzige, was hilft, ist Fliegen auf Sicht. Das heißt so viel, wie die Lage selbst bewerten, statt sie sich immer nur bewerten zu lassen. Aber wir sind betriebsblind geworden oder zumindest fehlsichtig. Die Folge: Panik im Cockpit, Planlosigkeit, flackernde Augen, die einen Horizont suchen. Hysterie, Untergangsstimmung, Resignation – genau das Gegenteil dessen, was man braucht, breitet sich aus. Das ist menschlich, aber gefährlich. Wer fliegen will, muss nüchtern bleiben.“
Menschen reagieren meist auf rapide Veränderungen von außen, indem sie sich „auf extreme, grundlegende Standpunkte zurückziehen, in denen Differenzierungen und Details keinen Platz mehr haben. Das ist eine Störung, die die Grundformel menschlicher Bewertungsverfahren – Wahrnehmen, Erinnern, Denken und Urteilen – außer Kraft setzt. Besonders das Erinnern und Denken sind die Spaßbremsen des Vorurteils. Denn diese Vorgänge führen dazu, dass man differenzierter und in Alternativen statt in vorgefassten Meinungen denkt. Der ganze Sinn des Denkens ist es ja, aus festen Routinen und Abläufen auszubrechen, weil man sich so etwas anderes vorstellen kann. Die Lage wird dynamisch beurteilt, weil die Welt und die Umwelt auch nicht stillstehen. Was man dazu braucht, nennt man Zweifel. Das ist ein schwieriges Wort, weil Unentschiedenheit eine durchaus quälende Sache ist – auch deshalb, weil sie viel Arbeit macht. Die Entscheidung geht nicht hoppla hopp, so aus dem Bauch heraus, sondern verlangt Grundlagenarbeit. Man muss sich umsehen. Sind die Dinge so, wie sie scheinen? Vor der Aufklärung war der Zweifel eine Sünde, was René Descartes dazu anstachelte, gerade diesen Zwischenzustand als der Weisheit Anfang zu bezeichnen. Ohne Zweifel gibt es nichts Neues, kein neues Denken, keinen Fortschritt, keine Bewegung. Wer vernünftig bewerten will, muss erst mal zweifeln.“
Doch „dafür haben die Leute im späten Konsumkapitalismus echt keine Zeit. Erinnern, Denken, Zweifeln – das dauert einfach zu lang. Man muss die ganze Zeit irgendetwas bewerten und einordnen, da kann man doch nicht verlangen, auch noch darüber nachzudenken, ob das überhaupt einen Sinn ergibt. Kognitive Verzerrungen sind eine Art Vorurteilsoptimierung. Manchmal werden sie Meinung genannt, manchmal kommen sie großspurig als Haltung und Überzeugung daher, aber sie sind immer aus den gleichen Materialien zusammengeschustert: simplen Vorurteilen, Wunschdenken und einem Schuss Selbsttäuschung. Zweifeln ist wieder Sünde, wie vor der Aufklärung.“
Führungskräfte, die anfangen am eingeschwungenen Zustand des Unternehmens, d.h. an der Tauglichkeit gewachsener Strukturen und etablierter Routinen zu zweifeln und diese zu durchbrechen, leben riskant … oder zumindest aufwendig. Wolf Lotter drückt es so aus: „Auf Veränderer, Innovatoren wartet doppelte Arbeit: Sie müssen sich nach den alten Bewertungsmethoden ihr Zeugnis ausstellen lassen, gleichsam aber nach neuen, praktikablen Wegen suchen.“ Und dennoch: „Blindfliegern darf man nicht die Lufthoheit überlassen.“
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