Führen in Zeiten der Veränderung ist von besonderen Herausforderungen geprägt. Die Herausforderungen nehmen überproportional zu, je tiefer die Veränderungen in die Kultur einer Organisation, d.h. in tradierte und teilweise identitätsstiftende Kommunikations- und Arbeitsgewohnheiten hineingreifen. Wir halten es für wichtig, sich mit diesen „gewachsenen Strukturen“ zu befassen, bevor ein tiefgreifendes Veränderungsvorhaben gestartet wird.
Bleibt die Frage: Wie lassen sich diese Strukturen überhaupt (be)greifbar machen? Fritz B. Simon (* 1948), ein Vordenker der systemischen Organisationstheorie, bietet hierfür einen Ansatz. Er vertritt die Auffassung, dass sich die Kultur einer Organisation über Kommunikationsmuster manifestiert. Aus der Beobachtung dieser Muster lassen sich soziale Regeln ableiten. Simon unterscheidet drei Regelarten:
Technische Regeln beschreiben gelebte (!) Prozeduren, Verfahren und Vorgaben für das Erreichen bewusster Ziele. Technische Regeln sind durch Reflexion über die Organisation zustande gekommen und im Allgemeinen explizit formuliert. Technische Regeln werden durch Unterweisung, Training oder Selbststudium gelernt. Begutachtende wachen über deren Einhaltung. Akteure, die gegen technische Regeln verstoßen, werden meist offen und – sofern keine Gefahr für Leib und Leben besteht (z.B. durch die Missachtung von Sicherheitsrichtlinien) – sachlich auf die Einhaltung dieser Regeln hingewiesen. Wiederholte Verstöße können jedoch zu Ermahnungen und Abmahnungen führen. Technische Regeln zeichnen sich durch eine niedrige Stabilität aus. Akteure werden häufig zur Reflexion über technische Regeln aufgefordert, um Vorschläge zu deren Veränderung zu unterbreiten (z.B. innerbetriebliches Verbesserungswesen). Organisationsveränderungen erfolgen über die bewusste Änderung technischer Regeln. Neue Prozeduren, Verfahren und Vorgaben werden zunächst als technische Soll-Regeln aufgeschrieben und in die Kommunikations- und Aushandlungsprozesse eingebracht. Zu einem Bestandteil der Organisationskultur werden sie jedoch erst dann, wenn die Akteure sie tatsächlich befolgen und sie nicht durch informelle Regeln „unterlaufen“ werden.
Informelle Regeln beschreiben gelebte Abläufe und Gewohnheiten, die nicht explizit formuliert sind. Der größte Teil des Kommunizierens und Handelns in Organisationen erfolgt nach informellen Regeln. Dies gilt vor allem bei Vorhandensein starker Akteure und/oder strikter Reglementierungen, die nicht angetastet werden dürfen. Wenn das Kommunizieren und Handeln dieser Akteure bzw. das Einhalten dieser Reglementierungen als nicht zielführend erlebt wird, dann entwickelt sich über informelle Wege eine „Lösungskultur“ um diese Personen und Reglementierungen herum. Informelle Regeln halten dann die Organisation lebendig und überlebensfähig. Informelle Regeln werden durch Imitation gelernt. Akteure, die gegen informelle Regeln verstoßen, werden bedingt emotional und meist „hinter vorgehaltener Hand“ auf die Einhaltung der Regeln hingewiesen. Informelle Regeln sind stabil, solange sie sich als nützlich erweisen. Sie ändern sich in Abhängigkeit von den Umwelt- und Rahmenbedingungen der Organisation. Neue Bedingungen führen zu neuen Kommunikations-/Verhaltensmustern, um im Sinne einer geänderten „Lösungskultur“ die Überlebensfähigkeit der Organisation sicherzustellen. Informelle Regeln, die sich lange genug bewährt haben, können einerseits zu grammatischen Regeln (siehe folgender Abschnitt) oder zu technischen Regeln werden, d. h. sie werden explizit bestätigt und aufgeschrieben. Andererseits wird häufig der Versuch unternommen, informelle Regeln, die von bestimmen Akteuren als nicht zielführend erachtet werden, durch die Einführung technischer Regeln zu ersetzen, was wiederum die Gefahr einer Über-Reglementierung in sich birgt und die Bildung weiterer informeller Regeln nach sich ziehen kann.
Grammatische Regeln repräsentieren Festlegungen, was man zu tun bzw. zu unterlassen hat. Sie sind meist kulturell tradiert („gewachsene Strukturen“) und selten explizit formuliert. Sie wirken identitätsstiftend und werden daher ungern in Frage gestellt. Das Einhalten dieser Regeln entscheidet darüber, wer dazu gehört und wer nicht. Grammatische Regeln werden durch Versuch und Irrtum gelernt. Sie spiegeln eine unbewusste Erwartungshaltung wider und sind im Alltag praktisch nicht beobachtbar. Sie geraten erst dann ins Bewusstsein der Akteure, wenn sie verletzt werden (z.B. Kritisieren des Vorgesetzten vor anderen Mitarbeitern). Verletzungen werden im Allgemeinen offen, direkt und emotional kommentiert. Der verletzende Akteur wird „erzogen“ („Wenn sie noch eine Weile bei uns bleiben wollen, dann sollten sie dieses Verhalten einstellen!“). Akteuren, die dauerhaft gegen grammatische Regeln verstoßen, droht die soziale Ausgrenzung (ggf. „Mobbing“). Grammatische Regeln verfügen über eine hohe Stabilität und ändern sich nur langsam – selbst dann, wenn sie von vielen Akteuren als Belastung empfunden werden. Eine Änderung ist nur möglich, wenn einzelne Akteure damit beginnen, bewusst oder unbewusst gegen sie zu verstoßen. Diese Akteure werden entweder durch die Reaktion anderer Akteure „auf Linie gebracht“ bzw. ausgegrenzt oder aber sie finden Nachahmer, was zur Ausprägung einer neuen informellen Regel führen kann, die die bestehende grammatische Regel zunehmend schwächt. Bewährt sich die informelle Regel über einen längeren Zeitraum, so kann sie die „alte“ grammatische Regel ersetzen und selbst zur „neuen“ grammatischen Regel werden.
Vor dem Versuch, Organisationsveränderungen durch die Festlegung und Etablierung technischer Regeln herbeizuführen, sollten Initiatoren und Umsetzungsverantwortliche prüfen, inwieweit diese technischen Soll-Regeln bestehende informelle und grammatische Regeln verletzen. Insbesondere bei grammatischen Regeln gestaltet sich dies schwierig, weil den Akteuren die Existenz dieser Regeln meist nur im Falle einer Verletzung bewusst wird. Um zu vermeiden, dass Regel-Verstöße erst zum Zeitpunkt der Veränderungsumsetzung erkannt werden, lassen sich diese Verstöße bereits in den frühen Projektphasen durch paradoxe Fragen simulieren, z. B.:
Die Antworten auf diese Fragen ergeben eine Liste potenzieller Fallstricke, die zumeist mit der Verletzung informeller und grammatischer Regeln zu tun haben. Diese Fallstricke sind idealerweise zu umgehen. Wenn sie sich nicht umgehen lassen, dann sollten sich Initiatoren und Umsetzungsverantwortliche des Veränderungsprojekts auf langwierige und konfliktbehaftete Aushandlungsprozesse einstellen.
Grundsätzlich gilt: Je stärker ein Veränderungsprojekt in „gewachsene Strukturen“ eingreift, desto größer ist der zu erwartende Widerstand (Prozessmusterwechsel vs. Prozessoptimierung innerhalb bestehender Strukturen und Muster).