Diese Auffassung vertritt der Biologe Yuri Gleba, Geschäftsführer der Biotech-Firma Icon Genetics und Kenner beider Welten (siehe brand eins online "Fast eine gerade Linie"). „Für wirkliche Innovation ist freies, manchmal radikales Denken die notwendige Voraussetzung und das fällt den meisten Menschen, die in Großunternehmen arbeiten, sehr schwer. Sie sind eher auf die Vermeidung von Risiken ausgerichtet.“ Anderen wiederum, so Gleba, werde diese Fähigkeit systematisch abtrainiert. Den Topwissenschaftlern etwa, die Konzerne immer wieder anheuern. „Es dauert meist nicht lange, bis solche Leute merken, dass es vor allem darum geht, sich mit den Vorgesetzten gut zu stellen.
Sie verfallen in eine Art vorauseilenden Gehorsam. Das Perfide daran ist: Dieser Prozess vollzieht sich so allmählich, dass der Betreffende die Veränderung an sich selbst gar nicht bemerkt.“ Während einer Learning Journey zum Thema „Inventing“ mit Teilnehmern eines unserer Management-Development-Programme wurde klar, dass bahnbrechende Innovationen in Konzernen in der Regel mit zivilem Ungehorsam verbunden sind. „Unseren größten Verkaufsschlager dürfte es offiziell gar nicht geben. Es gibt ihn nur deshalb, weil ein Mitarbeiter in der heimischen Garage einen Prototyp baute und damit immer wieder in die Firma kam. Er ließ sich nicht beirren, auch dann nicht, als man ihm persönliche Konsequenzen androhte“, resümiert der Leiter der Vorentwicklung.
Wenn es darum geht, Budgets für wirklich innovative Produktideen zu erhalten, „dann müssen sie die offiziell beauftragten Entwicklungen so kalkulieren, dass genug Budget für die spannenden Dinge übrig bleibt. Diese entwickeln Sie dann im Geheimen und schieben sie bei der Präsentation der offiziell beauftragten Entwicklung einfach mit auf die Bühne. Der Ärger ist jedes Mal riesig, aber er ist es wert.“ Wenn es um die passenden Mitarbeiter für Innovationen geht, dann handelt es sich um „Leute, die im Zuge von Kosteneinsparungs- und Effizienzsteigerungsprogrammen vorzugsweise aussortiert werden, weil Sie sich an keine Regeln halten.
Diese Leute sind Querdenker, meistens Nerds, mit denen sich kaum einer unterhält, weil man sie ohnehin nicht versteht. Von diesen wirklich Innovativen gibt es in einem Großunternehmen allenfalls eine Hand voll.“ Diese Mitarbeiter nehmen an offiziellen Innovationsprozessen selten teil. „Wenn die was von Prozess hören, dann kommen die nicht. Anzapfen kann man sie allenfalls über informelle Kommunikation, in der Kantine oder bei einer Tasse Kaffee. Versuchen Sie, über vermeintlich irrationale Zielvorstellungen ins Gespräch zu kommen. Darauf springen diese Leute an.“ Von pauschalen Zeitregelungen für freies innovatives Schaffen hält der Leiter der Vorentwicklung nichts. „Die wirklich Kreativen lassen sich davon sowieso nicht einschränken und für die Anderen ist es Zeitverschwendung.“ „Alles was ich tun kann, um mich kaputt zu machen, muss ich selbst tun, weil es sonst andere tun“, so der Gründer eines Elektronik-Startups während der gleichen Learning Journey - eine Haltung, die in großen Unternehmen eher unpopulär ist, weil sie etablierte Strukturen und funktionierende Geschäftsmodelle in Frage stellt.
Eine weitere Empfehlung lautet, keine Marktrecherchen durchführen. „Diese hemmen nur, weil sie ein Bild der Vergangenheit und nicht der Zukunft zeichnen.“ Ferner: „Wenn Sie echten Innovationen auf die Spur kommen wollen, dann sollten Sie die Kunden nicht fragen, was sie brauchen, sondern in ihrem Tun beobachten und dabei Probleme erkennen.“ Bei diesen Problemen handelt es sich um Diskrepanzen zwischen beobachtbaren unbewussten Bedürfnissen und (genutzten) Angeboten zur Bedürfnisbefriedigung. „Wenn ich ein Problem löse, dann habe ich einen Seller. Wenn ich viele Probleme löse, dann habe ich einen Megaseller.“ Aus diesen Problembeobachtungen heraus hat der Firmengründer ein Produkt kreiert, das seines Erachtens „so absurd für Konzerne ist, dass es in den Entscheidungsinstanzen definitiv gestoppt würde – spätestens im Controlling. Wir werden Ende diese Jahr eine achtstellige Summe investiert haben ohne zu wissen, was dabei herauskommt.“
Das Fazit der Learning Journey: Echte Innovationen sind immer mit einem persönlichen Risiko des Innovationstreibers verbunden. Sie leben von dessen Überzeugung, Hartnäckigkeit und Unerschrockenheit. Echte Innovationsvorhaben lassen sich im Vorfeld nicht kalkulieren. Sie überleben nur dann, wenn sie im Geheimen stattfinden oder sich das Umfeld über einen längeren Zeitraum gewisse Fragen bewusst nicht stellt.