Dr. Andreas Zeuch ist Gründer und Partner der Unternehmensdemokraten. Das Berliner Unternehmen begleitet Menschen und Organisationen auf dem Weg zu mehr und besserer Partizipation. Wir haben mit ihm über sein Format "Arbeit als Demokratielabor", utopiefreundliche Organisationen und den Unterschied zwischen Lippenbekenntnissen und richtigem Kulturwandel gesprochen. |
Lieber Andreas, warum brauchen wir gerade jetzt Utopien?
Momentan, so scheint mir, gibt es eine Menge Krisen, allüberall Feuer, die wir löschen müssen. Wir sind zunehmend Getriebene. Gerade ist der neueste IPCC Bericht erschienen und fast gleichzeitig fliegt uns Afghanistan um die Ohren. Das alles hängt für mich damit zusammen, dass wir keine gemeinsame Utopie haben, kein alternatives Narrativ zu unserer ach so großartigen kapitalistischen Leistungsgesellschaft.
In deinem Buch „Alle Macht für niemand“ heißt das dritte Kapitel „Arbeit als Demokratielabor“ (AaDL). Daraus hast du ein gleichnamiges Format für Unternehmen entwickelt. Wie bist du darauf gekommen und was hat das Ganze mit dem Thema Utopien zu tun?
Das ist schon lustig: Da lag die Idee dieses Kapitels ein halbes Jahrzehnt brach. Dann wurde ich Anfang 2021 zu einem Workshop im Rahmen eines zivilgesellschaftlichen Partizpations-Camps eingeladen. Dort führte ich das erste Mal AaDL durch - und durch die Reaktionen kam ich auf die Idee, daraus ein dreijähriges, intersektorales Programm zu entwickeln, an dem jeweils ein Unternehmen, eine NGO und eine Körperschaft des öffentlichen Rechts teilnimmt. Das Ganze basiert auf der Vision, dass wir eines Tages unser Leben gemeinsam in einer lebendigen, lernenden Demokratie ökologisch, ökonomisch und sozial integer nachhaltig gestalten. Das hat einen utopischen Charakter.
Was ist das Nutzenversprechen deines Programms für Organisationen? Wie trägt es zur Utopie in Unternehmen bei?
Ha - die Frage stellt ihr natürlich nicht zum ersten Mal. Sie hat mich zu einer Variation auf Kennedys Bonmot gebracht: Frage nicht, was die Gesellschaft für Dein Unternehmen tun kann, sondern was Dein Unternehmen für die Gesellschaft tun kann! Im Ernst: Die Organisationen profitieren auf dreierlei Weise: Erstens verbessern die Teilnehmenden ihre demokratischen, kollaborativen und co-kreativen Kompetenzen und stärken ihr soziales Vertrauen. Die Organisationen erarbeiten oder entwickeln ihre sozial-ökologische Ausrichtung konform zur Corporate Sustainability Reportive Directive, die ab Januar 2024 greifen wird. Drittens ist es für die Organisationen natürlich auch überaus nützlich, wenn sie für ein gesundes, gesellschaftlich stabiles Umfeld mit Sorge tragen. Das alles ist zirkulär auch wiederum ein Beitrag zur Utopie demokratischer Organisationen, die im Einklang mit unserer gesellschaftlichen Demokratie und unserem Grundgesetz stehen, statt wie zur Zeit in eklatantem Widerspruch.
Hast du Unternehmen beobachtet, die besonders utopiefreundlich sind? Welche Verhaltensweisen oder Mindsets zeichnet sie aus?
Ja, glücklicherweise. Der Fisch stinkt vom Kopf. Oder wie ich es formuliere: Die Transformation muss durchs Nadelöhr des Topmanagements. Bei vielen Unternehmen sehen wir deshalb leider Lippenbekenntnisse. Wenn unsere Automobilhersteller ihre betrügerischen Handlungen im Kontext von #Dieselgate so gut wie irgend möglich von sich weisen, dann glaube ich kein Wort von Kulturwandel. Das erste auf dem Weg zu einer neuen Kultur wäre, Integrität zu beweisen und klarzustellen, dass dies ein mieses Fehlverhalten war. Was soll da das Geschwätz von New Work & Co.? Umgekehrt kenne ich einige mittelständische Unternehmen, bei denen die Geschäftsführungen selber hochgradig motiviert sind, den eigenen ökologischen Fußabdruck so gering und den sozialen so positiv wie möglich zu gestalten. Das Ergebnis sind beeindruckende Umsetzungen und Ideen zu den Sustainable Development Goals. Und eine grundsätzliche Offenheit, das alles noch weiter zu denken und besser zu machen.
Von welcher Realität gewordenen Utopie bist du selbst bis heute überrascht?
Schöne Frage. Da denke ich an den Fall des eisernen Vorhangs, den Zusammenbruch des Ostblocks mit seinem real existierenden Kommunismus und Sozialismus bzw. die Utopie einer „freien Welt“. Ich weiß gar nicht, ob das mal eine Utopie war - aber zumindest war es für mich bis zu meinem 22. Lebensjahr eine bittere Realität: Wenn ich in den Osten wollte, musste ich ein ziemliches Bollwerk von Grenze überwinden. Und meine Verwandten aus dem Osten konnten uns bis 1989 nicht besuchen. Und jetzt lebe ich in Berlin - genau deshalb, weil ich so fasziniert davon bin, wie hier immer noch diese Grenze spür- und sichtbar ist. Immerhin lebe ich in Luftlinie rund 1,5 km von der East Side Gallery entfernt. Aber die Entwicklungen seit dem sind nur ein Anfang, da gibt es noch sehr viel zu tun. Gleichzeitig ist es eine schöne Metapher für unsere Vision und Utopie. Denn die ist nur erreichbar, wenn wir Menschen nicht einsperren und sie (nicht) zu Erfüllungsgehilfen degradieren.