Was lassen wir in unsere Köpfe? Diese Frage hat der amerikanische Journalist und Internetexperte Stephen Baker mit Blick auf das begonnene digitale Zeitalter zur Kernfrage unserer Generation erhoben. Bezogen auf Unternehmen lässt sich diese Frage wie folgt erweitern: Was lassen wir in unsere Köpfe und in unsere Organisation?
Doch vorweg sei gefragt: Warum ist die eingangs gestellte Frage eigentlich so wesentlich?
Weil die Erwartungen an die Transparenz von Unternehmen in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen sind. Insbesondere die digitalen Umwelten fordern permanente Auseinandersetzung. Unternehmen müssen sich heute annähernd in Echtzeit mit Kunden, Partnern und Netzwerken über die eigene Unternehmenskultur (beispielsweise via kununu), über Geschäftsprozesse, Produkte und vieles mehr austauschen. Dabei balancieren sie auf einem schmalen Grat: Einerseits sind sie darauf angewiesen, die Vielfalt, Dynamik und Multioptionalität hereinzulassen und in sich abzubilden. Andererseits brauchen sie Schließung und Abgrenzung, um ungestört, organisiert und effizient arbeiten zu können. Zudem benötigen sie weiterhin einen stabilen Kern, der ihre Identität und Kultur bewahrt, ohne die die Unterschiede gegenüber anderen verschwinden würden. Unternehmen stehen damit vor gänzlich neuen Herausforderungen und Fragestellungen hinsichtlich ihrer eigenen Grenzziehung, der Gestaltung ihrer Beziehungen und ihres Informationsaustausches.
~ P1 Quarterly als PDF Download ~
Dies alles vor dem Hintergrund, dass durch Internet und digitale Transformation in den letzten Jahren ein bislang beispielloser Geschwindigkeitswettkampf entbrannt ist. Die Hürden für die Entwicklung und Umsetzung neuer Geschäftsmodelle sind in manchen Branchen schon heute extrem niedrig, die Zeitfenster für Ideen extrem kurz. Mensch und Organisation leben in einem latent unruhigen Zustand, ausgelöst durch ein Nicht- Wissen-Können, ob, und wenn ja, wie lange das eigene Geschäftsmodell noch zukunftsfähig ist. Oder ob es an der Zeit ist, das eigene Geschäftsmodell zu kannibalisieren, um mit einer disruptiven Innovation die Grundlage für einen neuen und erfolgreichen Abschnitt des Unternehmens zu legen. Einer unserer Kunden drückte es kürzlich in etwa so aus: „Es geht uns derzeit wirtschaftlich besser denn je. Dennoch beschleicht mich das Gefühl, dass wir uns verändern müssen. Das beginnt damit, dass wir uns bislang ungestellte Fragen stellen. Es heißt auch, dass wir unsere Umwelt anders als bislang gewohnt beobachten müssen. Ich kann es nicht rational begründen, aber es ist so etwas wie eine begründete Ahnung.“ Die digitale Transformation führt also dazu, dass die Karten auf vielen Spielfeldern neu gemischt werden. Dies eröffnet neue Möglichkeiten und Chancen, verlangt aber auch von allen Akteuren Anpassungen. Wie geht man nun mit diesem für Mensch und Organisation potenziell fundamentalen Wandel um? Wo fängt man an? Was nimmt man in die Bearbeitung? Was kann man ungestraft weglassen?
Ein derzeit in diesem Zusammenhang hoch gehandelter Begriff ist der der Agilität (vgl. Process One Quarterly 4/2015). Häufig wird Agilität mit steigender Geschwindigkeit gleichgesetzt. Diese Reduktion ist aber für die aktuellen Fragen von Unternehmen mitnichten nützlich. Denn aus- schließlich auf Beschleunigung zu setzen, wirkt – wie sich zeigen wird – eher problemverstärkend. Um herauszufinden, wie sich die nützlichen und erfolgsversprechenden Prinzipien aus der agilen Welt auf die heutigen Fragen anwenden lassen, haben wir uns an die Arbeit gemacht. Wir haben unsere Erfahrungen aus der Beratung mit der Expertise agiler Projektmanager zusammengelegt und das getan, was wir praktische Übersetzungsarbeit nennen. Herausgekommen ist dabei Folgendes:
1. Ein Set von Definitionen, das ein gemeinsames Verständnis zum Thema erleichtern soll
a.) Ein Unternehmen ist agiler geworden, wenn es seine Anpassungsfähigkeit an sich verändernde Rahmenbedingungen erhöht hat.
b.) Ein Unternehmen schafft dies, indem es Instrumente und Prinzipien, die agilen Methoden zugerechnet werden, dauerhaft für sich etabliert.
c.) Die dafür nötigen Kompetenzen sind sowohl auf der organisationalen als auch auf der persönlichen Seite – und nicht ohne Bezug aufeinander – zu entwickeln. Bei Weitem nicht alle sind neu.
d.) Besagte Kompetenzen zeigen sich in den Kategorien der Wahrnehmungs-, Entscheidungs- und Umsetzungsfähigkeit.
e.) Die Kompetenzen und Tools unterscheiden sich erheblich hinsichtlich ihres Umsetzungsaufwandes und ihrer Auswirkung auf bereits bestehende Strukturen und Prozesse.
2. Ein Framework (siehe Abbildung), das unser Verständnis der drei agilen Kompetenzen beschreibt und uns hilft, zu erfassen, welche dieser Kompetenze in einem Unternehmen gegebenfalls weiterzuentwickeln sind.
Die Abbildung macht deutlich, dass über allem der Kunde steht. Dieser ist zum einen Empfänger von Produkten und Dienstleistungen (Umsetzungsergebnissen) und zugleich Quelle für Beobachtungen und Ideen, die eine kontinuierliche Optimierung bestehender beziehungsweise die Entwicklung neuer Produkte und Dienstleistungen befördern.
3. Eine Toolbox, die in den drei Kategorien Wahrnehmungs-, Entscheidungs- und Umsetzungsfähigkeit aufzeigt, welcher Aufwand mit der Einführung einzelner Tools verbunden ist und welche Auswirkungen auf bestehende Strukturen und Prozesse zu erwarten sind.
Die Entwicklung entlang dieses Modells ermöglicht Unternehmen, den Kreislauf aus Wahrnehmen, Entscheiden und Umsetzen neu zu justieren, zu verfeinern und – mit hinreichender Übung – auch zu beschleunigen. Das bedeutet nicht zwangsläufig, dass ständig alles auf Hochtouren laufen muss. Der Zielzustand ist mit einem gut trainierten 100-Meter-Sprinter vergleichbar: Wenn es darauf ankommt, kann er 100 Meter in zehn Sekunden laufen; aber er muss nicht jedes Mal, wenn er das Haus verlässt, dieses Tempo aufnehmen.
In den nächsten Ausgaben des Quarterly wer- den wir die zwei Kompetenzen Entscheidungs-und Umsetzungsfähigkeit ausleuchten. Im nun Folgenden geht es um die erste agile Kompetenz in unserem Modell: die Wahrnehmungsfähigkeit.
Dieser zunächst einmal recht gewöhnlich und unprätentiös wirkende Begriff hat es auf den zweiten Blick in sich, werden hier doch all jene Fragen der Grenzziehung und Gestaltung aufgeworfen und entschieden, die wir eingangs beschrieben haben.
Aus unserer Sicht zunächst einmal, indem die bestehenden Strukturen und Prozesse der Informationsaufnahme auf ihre Zieldienlichkeit hin überprüft werden. Ausgangspunkt ist der Kunde als Empfänger von Produkten und Dienstleistungen sowie als Quelle neuer Ideen und Beobachtungen. Wenn wir hier von Kunden sprechen, können damit sowohl Kunden im engeren „klassischen“ Sinn als auch interne Kunden, Partner, Schnittstellen, Kollegen gemeint sein.
In den meisten – nach wie vor pyramidenähnlich strukturierten – Organisationen haben die unteren Ebenen zwar den intensivsten Kundenkontakt, aber kaum die Möglichkeit, rasch auf ihre Beobachtungen zu reagieren. Schließlich müssen die im Markt gewonnenen Informationen erst einmal den Berichtsweg hinauf und – in Form von Entscheidungen – wieder hinunterwandern. Selbst wenn dieser Prozess fehlerfrei und idealtypisch (beispielsweise ohne politische Hindernisse oder Verzerrungen) abläuft, vergeht viel Zeit, bis der Kunde die Auswirkungen dieser Entscheidungen erleben kann.
Wenn Sie nun diese Pyramide um 90 Grad drehen, so erstreckt sich eine horizontale Linie von der ehemaligen Spitze über die Peripherie (untere Führungsebene und Mitarbeiter) hin zum Kunden. Wenn sie nun die Peripherie mit den nötigen Entscheidungsbefugnissen und -kompetenzen ausstatten und diese dort auch genutzt werden, kann wesentlich schneller auf Anforderungen und Wünsche der Kunden reagiert werden.
Im Sinne unserer Toolbox-Kategorisierung wäre eine solche Veränderung mit einem hohen Umsetzungsaufwand und großen Auswirkungen auf bestehende Strukturen und Prozesse verbunden. Zudem würden hierdurch natürlich auch neue Fragen aufgeworfen werden; zum Beispiel die nach Funktion und Selbstverständnis von Führung in so einer liegenden Pyramide.
Ein mögliches, überraschendes Ergebnis könnte sein, dass die verwendeten CRM-Systeme zwar eine gewaltige Datenmenge bereithalten, relevante Kundenbedürfnisse und -wünsche jedoch unbeschrieben bleiben oder nicht in die organisationale Kommunikation Einzug halten. Eine kleine prototypische Strukturänderung könnte am Ende einen neuen Prozess zur Informationsgewinnung und Pflege der Kundenbeziehungen zur Folge haben.
Weniger aufwendig, aber unserer Erfahrung nach sehr nützlich sind gut vorbereitete Customer Journeys zu ausgewählten Funktionseinheiten mit einer anschließenden Retrospektive. Eine andere Variante wäre, einer möglichen Auslegung des Prosumers-Begriffs zu folgen und Kunden in interne Produktentwicklungsformate einzuladen. Oder Sie bitten Ihre Kunden, für eine bestimmte Zeit die im Scrum verwendete Schlüsselrolle des Product Owners einzunehmen. Hier würde sich übrigens eine vertiefende Betrachtung lohnen, welche Effekte hinsichtlich Wertschätzung und Kundenbindung durch eine derartige Maßnahme erzielt werden könnten.
Offen bleibt in dieser Ausgabe auch, wie wir unsere persönliche Wahrnehmungsfähigkeit entwickeln (oder bewahren?) können. In einer der nächsten Ausgaben wollen wir mit Stephen Baker fragen: Mit welchem Gehirn denken Sie am meisten? Mit dem schwammartigen in Ihrem Kopf oder dem elektronischen Wunderding unter Ihren Fingerkuppen?
Welches von beiden speichert mehr Erinnerungen von Ihnen, welches knüpft die Netze Ihrer Freundschaften? Wie schaffen wir es, unsere seit 40.000 Jahren weitgehend unveränderten Gehirne mit diesen kleinen elektronischen – weltumspannenden, ihre Datenmenge und Rechenkapazität sprunghaft steigernden – Zusatz-Gehirnen in eine gedeihliche Beziehung zu setzen? Wir freuen uns auf die Erkundung.