In Ausgabe drei unseres letztjährigen Quarterly haben wir die neuen Organisationsprinzipen der „New Work Order“ beschrieben. Alle dort genannten Ansätze zielen darauf ab, Strukturen, Führung und Verantwortung im Unternehmen neu zu ordnen. Sie sollen Organisationen wie Gesellschaft ermöglichen, unter VUCA-Bedingungen (volatil, unsicher, komplex, vieldeutig) handlungsfähig zu bleiben. Und sie sollen Unternehmen innovations- und wettbewerbsfähiger machen und Mitarbeitern den Rahmen für individuelle Entwicklung und Sinnentfaltung im Job bieten.
Unternehmen können nicht basisdemokratisch geführt werden. Denken Sie nur an die Demokratisierungsversuche der Siebziger- und Achtziger Jahre. Die Entscheidungsstrukturen waren zeit- und nervenaufreibend, die betreffenden Unternehmen (oder Unternehmensteile) versanken in sozialen Aushandlungsprozessen und Selbstthematisierungen. Der Anspruch, Entscheidungen im Konsens mit weiten Teilen der Belegschaft zu treffen, und betriebswirtschaftlich sinnvolles Handeln lassen sich nicht vereinen. Hierarchie ist die Struktur, die Organisationen handlungs- und entscheidungsfähig hält. Demokratie passt nicht ins Unternehmen. So sieht es auch die überwiegende Zahl der Führungskräfte in Deutschland. 1998 beschrieben noch 86 Prozent der Führungskräfte ihren Führungsstil als kooperativ/demokratisch, 2003 dagegen nur noch 69 Prozent und heute sind es gerade einmal 37 Prozent. Zugleich stehen dieser Tage 61 Prozent der Führungskräfte zu ihren autoritären Seiten. Das wiederum lässt darauf schließen, dass das Selbstbild der heroischen Führungskraft nach wie vor weit verbreitet ist. Solch ein Selbstbild kennt nur eine angemessene Organisationsform (und bedarf ihrer wie das Pflänzlein der Sonne): die Hierarchie. Das Experiment Demokratie scheint damit eindrucksvoll gescheitert.
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2014 wurden im Rahmen der Initiative Neue Qualität der Arbeit Tiefeninterviews mit 400 Führungskräften aus dem mittleren und dem oberen Management geführt. Die Studie zeichnet folgendes Bild: Klassische Werkzeuge wie Management by objectives und Controlling werden angesichts zunehmender Volatilität und abnehmender Planbarkeit als untauglich angesehen. Die klassische Linienhierarchie wird überwiegend abgelehnt, ja geradezu als Gegenentwurf zu guter Führung betrachtet. Ebenso sinkt die motivierende Wirkung von Gehalt und materiellen Anreizen zugunsten von Entscheidungsfreiräumen, Eigenverantwortung und erlebtem Sinn. Mehr als drei Viertel der Befragten glauben, dass der Standort Deutschland durch die vorherrschende Führungspraxis weit unter seinen Möglichkeiten bleibt. Ebenso viele wünschen sich ein anderes Führungsparadigma – nur welches, darüber gehen die Meinungen auseinander. Die Nennungen reichen von eher traditionellen, transformationalen Ansätzen bis hin zur Forderung, gewohnte Führungspositionen in sich selbst organisierenden Netzwerken aufzulösen. Die Sehnsucht nach fundamentaler Veränderung scheint also groß. Dem Zukunftsbild fehlt es jedoch an klaren Inhalten und konkreter Ausgestaltung.
2015 wird als das Jahr des VW-Skandals in die Geschichte eingehen. Wahrscheinlich wird er in den nächsten Jahren auch als Muster organisierter Verantwortungslosigkeit gelten. Die derzeit zu beobachtende Zähigkeit des Aufklärungsprozesses macht deutlich, wie es diesem System gelungen ist, Eigenverantwortung verschwinden zu lassen. Dabei verweist die Katastrophe VW auf ein Problem, das jedem hierarchisch geführten Unternehmen droht: Die Hierarchie soll für eindeutig zurechenbare Verantwortlichkeiten sorgen, neigt paradoxerweise aber dazu, die individuelle Verantwortungsbereitschaft zu schwächen oder gänzlich zunichtezumachen. Die Unterscheidung in Entscheider und Entscheidungsempfänger – ausdifferenziert in exakt beschriebenen Stellenbildern, abgebildet in Zielvereinbarungen, Kennzahlensystemen und so weiter – führt nicht selten zum Gegenteil des Erwünschten. Menschen handeln nämlich immer dann maximal verantwortlich, wenn Entscheidung, Ausführung und Konsequenzen einer Handlung in einer Person zusammenfallen. Zugespitzt: Je mehr durch das Organisationsprinzip eines Unternehmens Entscheidung und Ausführung einer Handlung auseinandergerissen werden, umso mehr schwindet die Motivation und das Empfinden, etwas Sinnvolles beitragen zu können, und letztlich die Verantwortung für die Konsequenzen des eigenen Tuns und Nicht-tuns. Was folgt ist wohlbekannt: Mit aufwendigen Zielvereinbarungskaskaden, Anreizsystemen und vielem mehr – also über Steuerung und Kontrolle – wird versucht, die entstandene Lücke zu füllen, das so dringend benötigte Maß an Verbindlichkeit und Engagement wieder zurückzuholen. Es gibt Verhaltensökonomen, die an dieser Stelle von Zurückkaufen sprechen. Aus ihrer Sicht verdrängt eine derartige Organisations- und Führungspraxis die intrinsische Motivation und erkauft sich Verantwortung durch extrinsische Anreize. Hierarchisch geführte Organisationen trennen jedoch nicht nur zwischen Entscheidung und Ausführung, sie entwickeln auch ihre eigene Logik bei der Frage, wem die Konsequenzen von Handlungen zugeschrieben werden sollen – und sind überdies machtvoll genug, sie auch umzusetzen. Dies führt nicht nur zu Verantwortungslosigkeit, sondern auch zu erlebter Ungerechtigkeit. Die umfangreichen Bankenrettungen der vergangenen Jahre geben uns hier ein eindrucksvolles Beispiel, das bis weit in Gesellschaft und Politik hineinreicht. Hier wurde die Verantwortung für die Konsequenzen in ganz beträchtlichem Umfang an den Staat outgesourct.
„Wir brauchen mehr Innovationsgeist und Unternehmertum in unserem Betrieb!“ Dieser – zumeist an die Führungsebene gerichtete – Appell kommt in „klassischen“ Systemen einer Aufforderung zum Verrücktwerden gleich. Zumindest enthält er alle Merkmale eines lupenreinen Doublebinds: Wie kann eine Führungskraft innovativ sein und damit hinnehmen, dass finanzielle Kennzahlen phasenweise ins Rutschen kommen, wenn ihre Leistung zugleich an eben jenen Zahlen gemessen wird? Wie kann ein an- gestellter Manager sinkende Margen in Kauf nehmen, obwohl ihm das Geld für den Spieleinsatz nicht gehört? Ob und wie weit das möglich ist, darüber entscheiden auch die Entscheidungsstrukturen im Unternehmen. Schließlich zeichnen sich echte Innovationen gerade dadurch aus, dass über weite Strecken nicht klar ist, ob sie sich auszahlen. Sie lassen sich also nicht in einen Business Case zwängen. Tun sie es doch, hat man es höchstwahrscheinlich nicht mit einer Innovation, sondern lediglich mit einer Optimierung zu tun.
Zeit für eine kleine Ehrenrettung der Hierarchie. Selbstverständlich ist die Situation in vielen hierarchisch organisierten Unternehmen nicht ganz so drastisch wie beschrieben, bestimmt doch häufig das Menschenbild des leistungswilligen, eigenmotivierten Mitarbeiters das Handeln der Beteiligten. Schließlich gilt das Bild des antriebsschwachen, fremdgesteuerten und korrumpierbaren Individuums heutzutage als überholt. Insbesondere, da wir inzwischen sehr wohl wissen, wie sehr erwartetes Verhalten zu beobachtetem Verhalten wird: „Wenn wir unser ausgeklügeltes Bonussystem abschaffen, macht hier jeder, was er will.“ Zudem wäre es zu kurz gegriffen, allein von der Struktur eines Unternehmens (sei es Hierarchie, Matrix oder Netzwerk) direkt auf das Ausmaß von Demokratie zu schließen. Die formalen Entscheidungsbefugnisse bestimmen eben nur zum Teil, wie viel Entscheidungsraum und Mitgestaltungspotenzial gegeben sind und vom Einzelnen wahrgenommen und genutzt werden. So kann die subjektiv erlebte Wirksamkeit in einem demokratisch ausgerichteten Unternehmen sehr wohl niedriger sein als in einer strikt hierarchischen Aufbauorganisation.
Wie sieht das Fazit aus? Gerade die Unternehmen oder Unternehmensbereiche, die sich in volatilen, komplexen Umwelten bewegen, sind auf die volle Kraft des Individuums angewiesen. Denn ohne diese Kraft können sie nicht innovationsfähig und unternehmerisch erfolgreich bleiben. Dazu ist es notwendig, außerhalb der bislang gewohnten Pfade nach neuen Formen des Organisierens und Strukturierens zu suchen, die eine Zusammenführung von Entscheidung, Ausführung und Konsequenzen ermöglichen. So wird der Boden für echtes Mitunternehmertum und Eigenverantwortung – im ursprünglichen Sinne des Wortes – bereitet. Wie man als Unternehmen da hinkommt? Man muss nicht gleich alles radikal verändern, damit es gut wird. Es ist nicht nötig, grundsätzlich alle formalen Führungspositionen zugunsten von definierten Rollen und Entscheidungsprozessen aufzulösen. Man muss nicht damit anfangen, Führungskräfte von Mitarbeitern wählen zu lassen. Und es braucht auch keinen Prozess, der Mitarbeitern erlaubt, selbst über die Höhe ihres Gehaltes zu entscheiden. Stattdessen gibt es eine Vielzahl von Möglichkeiten, Menschen und Organisationen schrittweise und iterativ in Richtung Selbstbestimmung zu entwickeln. Es braucht auch kein Denken in großen Roll- Outs. Vielmehr ist ein Denken in Roll-Ins gefragt: Ein besonders dafür geeigneter – vielleicht auch im Umgang mit Veränderungen geübter – Bereich des Unternehmens macht erfolgreiche Schritte; andere Teile werden aufmerksam, machen vielleicht interne Learning Journeys, lassen sich inspirieren, entwickeln, verwerfen, adaptieren und so entsteht ein Übergang hin zu einem adäquateren Maß an Selbstbestimmung und Autonomie.