Holocracy, Reinventing Organizations, Soziokratie, Augenhöhe, Dialogic OD, Accelerate, Fluide Organisation: So lauten die klangvollen Namen der neuesten Modelle, die behaupten, ein zeitgemäßes Design für die Struktur von Unternehmen – eine zukunftsfähige New Work Order – zu bieten. Und da Organisation und Führung zwei Seiten einer Medaille sind, stellen diese Konzepte unser gewohntes Bild von Führung komplett auf den Kopf. Schließlich geht es hier nicht – wie etwa in der mehrdimensionalen Matrix – lediglich um eine Flexibilisierung von Führung, sondern weit radikaler um das Ende der Hierarchie Einige Führungskonzepte sind bis jetzt kaum über die blanke Theorie hinausgekommen. Andere sind bereits seit einigen Jahren erprobt, wieder andere lassen Ansätze und Ideen der Organisationsentwicklung aus dem vergangenen Jahrhundert wieder aufleben. Uns interessieren jedoch weniger die Unterschiede ihrer Entstehung, als vielmehr die Frage:
Wenn neue Organisationsstrukturen, die Auflösung von Hierarchien und die Umverteilung von Verantwortung die Lösung sind, was ist dann eigentlich das Problem?
Im Wesentlichen ist es ein Problem, das sich auf die folgenden drei Verschiebungen zurückführen lässt: (Download P1 Quarterly als PDF)
Dieses Akronym steht für Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität und beschreibt die Rahmenbedingungen, unter denen Unternehmen heute agieren. Schnell hat sich unter dem Stichwort VUCA eine Reihe von Trainingsangeboten entwickelt, die Führungskräfte und Unternehmensführung vermeintlich zuverlässig in die Lage versetzen, unter den Bedingungen, die dieses Akronym beschreibt, handlungs- und entscheidungsfähig zu bleiben.
Unseres Erachtens ist hier Skepsis geboten. Allein das Phänomen der Komplexität zeigt, dass sie – auch wenn es einige nützliche Prinzipien im Umgang mit ihr gibt – letztlich eine unbeherrschbare, andauernde Zumutung bleibt. Zumindest in einer Zeit, deren Denken und Entscheiden nach wie vor stark von Linearität und Kausalität geprägt ist.
Die Fähigkeit, Innovationen hervorzubringen, gilt heute mehr denn je als zentraler Wettbewerbsvorteil. Viele Unternehmen haben aber insbesondere durch die Effizienzprogramme des zurückliegenden Jahrzehnts einen Teil ihrer Innovationsfähigkeit eingebüßt – und tun dies weiterhin, wie Clayton Christensen unter dem Begriff des „Innovators Dilemma“ anschaulich beschreibt.
Was zunächst mit der Generation Y Einzug in die Unternehmen gehalten hat, scheint sich weiter zu verbreiten: die Forderung nach Sinn und persönlicher Entwicklung in der Arbeit. Die Grenze zwischen Work und Life verschwimmt immer weiter und so werden die Unternehmen zunehmend zu Orten, an denen nach Erfüllung und Selbstverwirklichung gesucht wird.
Flexibilisierung von Arbeitszeiten und Rollen, flache Hierarchien, mehr Partizipation, transformationale Führungskonzepte und noch so einiges mehr sind in vielen Unternehmen sichtbare Reaktionen auf veränderte Anforderungen an die Arbeit.
Die Wurzeln vieler Ansätze einer New Work Order sind gar nicht so jung, wie sie auf den ersten Blick glauben machen. So finden Theorien und Konzepte, die zum Teil mehr als 15 Jahre auf dem Buckel haben, derzeit über das Etikett der New Work Order den Weg in die Unternehmen. Dazu zählen unter anderen einige zentrale Paradigmen der Organisationsentwicklung aus den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts, Peter Senges Lernende Organisation aus den beginnenden 90er-Jahren sowie das Agile Manifest zur Softwareentwicklung von 2001.
Unter dem Titel „Freedom & Responsibility“ präsentierte Reed Hastings, CEO von Netflix, im Jahr 2011 seine Managementphilosophie. Sheryl Sandberg, die Geschäftsführerin von Facebook, hält Hastings Präsentation für das wichtigste Dokument aus dem Silicon Valley. Auf den ersten Blick scheint es erstaunlich, wie ein schnörkelloses 127-Seiten-Dokument so viel Beachtung gefunden hat. Doch Netflix hat den Sprung von der Theorie in die Praxis geschafft. Seine Entwicklung vom DVD-Versender hin zum heutigen Video-on-Demand-Geschäft zeigt sehr anschaulich, wie eine Organisation im Zuge der Digitalisierung ihr Geschäftsmodell vollständig wandelt und damit in jüngster Zeit enorm erfolgreich ist.
Jedes einzelne der genannten Konzepte zu besprechen, würde jeweils eine ganze Ausgabe unseres Quarterly füllen. Wenn wir in Erinnerung behalten, dass alle vornehmlich auf der Ebene der Unternehmensstruktur ansetzen sowie die Prinzipien Demokratie, Sinnstiftung und Ganzheit in sich vereinen, so sollte folgender Überblick zur Orientierung genügen.
VON Brian Robertson; ursprünglich eingeführt in der eigenen Softwarecompany (Ternary Software Corp.) MERKMALE Trennung von Person und Rolle. Struktur ineinander verwobener Kreise. Zwei Sorten von Meetings („Governance“ für Richtlinien, Wahlen etc. und „taktische“ für Ausführung und Umsetzung). Entscheidungen werden nach einem festgelegten sechsphasigen Muster getroffen. Konsent-Prinzip bei Entscheidungen (keine schweren Einwände). Implementierung und Anwendung durch eigene Software „Glassfrog“; Open-Source-Lösung von Holacracy One. PROMINENT EINGEFÜHRT BEI Zappos (Online-Schuhversand)
VON Frederic Laloux HINTERGRUND Laloux hat Organisationen mit der derzeit höchsten Entwicklungsstufe („integral, evolutionär“) untersucht, die unabhängig voneinander in verschiedenen Branchen entstanden sind. MERKMALE 3 Leitprinzipien: 1. Selbstführung und Selbstverantwortung: Selbststeuerung ersetzt Hierarchie. 2. Ganzheit: Menschen bringen sich ohne Fassade / Maske in ihre Organisation ein, nicht nur ihr professionelles Ego. 3. Auf den evolutionären Sinn der Organisation hören: Das, was sich in und durch die Organisation entwickeln will, ersetzt Strategiearbeit.
VON Gervase Bushe & Bob Marshak MERKMALE Weiterentwicklung der humanistischen, mitarbeiterorientierten Organisationsentwicklung (OE) aus den 70er- / 80er- Jahren des letzten Jahrhunderts ANNAHMEN Organisationen sind komplexe Systeme, in denen Gedanken und Handlungen der Teilnehmer einen stetigen Prozess der Sinnentstehung und Emergenz erzeugen. Change passiert immer und wechselt nicht mit Phasen hoher Stabilität. Das alte Konzept des „Entwerfe eine Vision an der Spitze der Organisation, sorge für möglichst viel Buy-in und setze dann um“ wird abgelöst durch: 1. Disrupt habits and embedded meanings so that something new and better can emerge. 2. Bring increased diversity into conversations so that creativity and innovation are heightened. 3. Energize networks of motivated people to propose and try small experiments that, if successful, can be leveraged into transformational changes.
VON Gerard Endenburg MERKMALE 1. Kreisstruktur (vgl. Holacracy) für alles Politische und Definition der Rahmenbedingungen; ein Kreis ist eine Gruppe von Menschen, die regelmäßig zusammenkommen und ein gemeinsames Ziel erreichen wollen, jedoch „normale“ Linienorganisation für das Operative. 2. Doppelte Verknüpfung von Kreisen (zwischen oberen und unteren Kreisen durch Vertreterprinzip). 3. Die Wahl von Personen und Funktionen findet in offener Aussprache und im Konsent (keine schweren Einwände) statt. 4. Rigide Meeting-Struktur: dreistufiger Entscheidungsprozess, wird bei Bedarf mehrmals durchlaufen. ANMERKUNG Große Ähnlichkeiten mit Holacracy
VON John P. Kotter MERKMALE Komplementäres Nebeneinander von „klassisch-moderner“ hierarchischer Organisationsstruktur (Vorteil: verlässlich und effizient) und netzwerkartiger, sich selbst organisierender Struktur (Vorteil: agil und innovativ). Austausch findet in erster Linie über Personen statt, die in beiden Systemen beheimatet sind.
Folgt man den Ideen der New Work Order, ist es in Zukunft nicht mehr die Führung, die die alleinige Verantwortung für das Wohl und Wehe des Unternehmens trägt, sondern die Organisation, die idealerweise so strukturiert ist, dass sich die ihr innewohnenden Potenziale bestmöglich entfalten können. Die neuen Organisationsformen lenken also den Blick weg von der einzelnen Führungskraft hin zur Organisation der im Unternehmen vorhandenen Intelligenz. Für Führungskräfte bedeutet dies einerseits Entlastung, andererseits aber auch Machtverlust. Das größte Hemmnis bei der Einführung dieser neuen Organisationsformen dürften daher die Führungskräfte selbst sein. Schließlich müssten sie ihre bisherige Rolle sowie die damit entstandenen Identitäten zur Disposition stellen. Und zwar mit ungewissem Ausgang. Schließlich ist zu Beginn einer solch radikalen Strukturreform nicht absehbar, an welchen Stellen und bei welchen Personen sich die bisherigen Verantwortlichkeiten und Aufgaben in welcher Form wiederfinden. Zudem müssten Führungskräfte die in den hierarchischen Positionen akkumulierte Macht aufgeben und sie sich wieder „von null“ erarbeiten – der organisationale Verantwortungs- und Einflussvorschuss fiele also gleichsam weg. Hierzu gibt es auch schon Erkenntnisse aus der Praxis. Bei dem amerikanischen Online-Schuhhändler Zappos, der 1.400 Mitarbeiter beschäftigt, hat der CEO Tony Hsieh 2013 – wie es scheint, mit aller Macht – Holacracy eingeführt. Mitarbeitern, die nicht bestätigten, das komplette Buch „Reinventing Organizations“ gelesen zu haben – eines der drei Kernprinzipien ist paradoxerweise das Prinzip der Selbstverantwortung –, wurde ein Abfindungsangebot unterbreitet. 14 Prozent der Belegschaft nahm das Angebot an und hat es damit vorgezogen, aus dem Unternehmen auszuscheiden, statt sich auf das Experiment Holacracy einzulassen. Es ist jedoch nur schwer zu sagen, ob diese und weitere Turbulenzen auf die scheinbar unvermeidlichen Übertreibungen und Irritationen bei der Einführung einer derart substanziellen Veränderung zurückzuführen oder der dem Konzept innewohnenden Logik zuzuschreiben sind. Vielleicht sind die teils süffisanten Berichte darüber aber auch schlicht als Hinweis auf das Mindset der zahlreichen Kommentatoren zu verstehen.