Wohl wissend, dass auch andere Definitionen denkbar sind, betrachten wir Sinn als originär menschliche Fähigkeit, das eigene Tun und Erleben in einen Ordnungszusammenhang zu stellen und ihm Bedeutung zu geben. Dies ist ein höchst individueller Prozess. So drängt sich die Frage auf, ob und wenn ja, wie Sinn tatsächlich gestiftet, produziert, übermittelt oder – wie häufig zu hören – kommuniziert werden kann. Überdies scheint fraglich, ob eine einzelne Führungskraft in der Lage ist, ihren Mitarbeitern Sinn zu vermitteln, wenn die Organisation ihrerseits keine Antwort auf die Sinnfrage hat.
Unbestreitbar hingegen ist, dass Fragen nach dem Sinn häufiger werden, worauf sich unmittelbar die nächste Frage anschließt: Lässt sich das erklären? Mit Blick auf unsere Begriffsbestimmung lässt sich sagen: Die Frage nach der eigenen Identität (die für den Großteil der Menschheit erst im Laufe des 20. Jahrhunderts relevant wurde) lässt sich immer schwerer beantworten. Ein Grund dafür ist, dass die gewachsene psychologische Selbstbestimmung des Menschen sowie der nahezu unbegrenzte Zugang zu Informationen bislang unvorstellbare Freiheiten eröffnet. Der Einzelne ist damit gefordert, aus der gigantischen Vielfalt an möglichen Lebensentwürfen und Bedeutungen die für ihn passenden auszuwählen. Und da Selbstverwirklichung Abraham Maslow oder Viktor Frankl zufolge ein menschliches Urbedürfnis ist, das niemals vollends befriedigt werden kann, entsteht gerade im Streben nach Selbstverwirklichung eine enorme Antriebskraft. Dementsprechend stellt sich für immer mehr Menschen des beginnenden 21. Jahrhunderts die Frage nach eben diesem Selbst, das zwangsläufig zentrale Fragen nach dem Sinn enthält.
~ P1 Quarterly als PDF Download ~ Mit Blick auf Organisationen hat der Sinn unter zweierlei Aspekten Konjunktur. Der eine – nicht mehr ganz so neue – findet sich in der vermehrten Verbreitung von transformationalen Führungsstilen, wobei hier die motivierende und inspirierende Wirkung von Sinn betont wird (vgl. sechsseiten 6 | 2013). Dabei sollen Führungskräfte ihren Mitarbeitern als Vorbild dienen, sollen ihnen Inspiration, intellektuelle Stimulation und Coaching bieten. Auch hier lohnt es sich, etwas genauer hinzuschauen, denn nach dem, was wir eingangs gesagt haben, ist Sinn das Ergebnis eines höchst individuellen und je nach Kontext differierenden Vorgangs der Bedeutungsgebung. Nicht wenige Führungskräfte, die ihrem Selbstverständnis nach für die Sinnstiftung verantwortlich sind, übersehen dies. Es geht hier nicht um Sinnstiftung, sondern um Sinnkopplung. Echte Sinnkopplung setzt ergebnisoffene Diskussionen voraus. Schließlich verfügt jeder Mitarbeiter eines Unternehmens über einen gleichwertigen Eigen-Sinn. Diesen bringt er umso bereitwilliger in die Diskussion, je mehr die diesbezügliche Kommunikation auf Augenhöhe stattfindet. Wird dem Sinnangebot einer höhergestellten Person hingegen à priori ein höherer Wert eingeräumt, bleibt das dem Sinn innewohnende Potenzial auf der Strecke. Die Aufgabe von Führung besteht demnach nicht darin, Sinn zu stiften, sondern einen kommunikativen Prozess zu gestalten: einen Prozess, an dessen Ende im Idealfall die Kopplung individueller Werte mit organisationalen Werten und Zielen steht. Gelingt der Dialog, entsteht Gewichtiges: Menschen setzen sich – quasi aus sich selbst heraus – für die Unternehmensziele ein. Sie machen die Aufgabe der Organisation zu ihrer eigenen Aufgabe, die Zielerreichung zu ihrer eigenen Passion und den Sinn der Organisation zu ihrem eigenen.
Der zweite Aspekt hingegen führt weg vom Individuum, weg vom täglichen Führungsgeschehen, hin zum Unternehmenssinn. Dieser wird derzeit verstärkt im Zusammenhang mit dem Trend zur De-Hierarchisierung von Organisationen diskutiert. So ist an fast allen Orten, an denen der Abgesang auf die klassischen Linien- und Matrixorganisationen ertönt, zuverlässig der Ruf nach dem Unternehmenssinn zu hören. Der Nutzen, den der Sinn verspricht, liegt auf der Hand: Bei steigender Selbstorganisation und zunehmender Abwesenheit von Führungskräften soll er die Zielrichtung aufzeigen und Orientierung bieten. Ein schöner, auch in finanzieller Hinsicht sehr attraktiver Gedanke: Führung wird zu einem guten Teil durch den Unternehmenssinn substituiert. Nur zu verständlich, dass vor diesem Hintergrund Erklärungsmodelle wie die des Managementberaters und Speakers Simon Sinek gefeiert werden. In seinem YouTube-Video „Start with Why“ (19 Millionen Besucher) beschreibt er, wie sich außerordentlich erfolgreiche Führungspersönlichkeiten wie Martin Luther King, Steve Jobs oder die Wright- Brüder in ihrem Wirken von der Frage nach dem „Warum“ leiten ließen. Wer nun dieses „Why“ zum Mittelpunkt seiner Führungskommunikation mache, dem gelinge es Sinek zufolge leichter, Mitarbeiter zu inspirieren und visionäre Vorhaben zu realisieren. Diese (und verwandte) Konzepte erfüllen alle Kriterien einer Management-Mode: Sie konzentrieren sich auf einen Schlüsselfaktor, setzen auf ein attraktives Buzzword, mischen Einfachheit mit Mehrdeutigkeit und stellen einen Bezug zu heldenhaften Persönlichkeiten her, die diese Methode mehr oder weniger bewusst angewendet haben. Bei aller berechtigten Skepsis gegenüber Management-Moden verweisen sie dennoch auf ein gesellschaftliches oder organisationales Phänomen; hier konkret die Sehnsucht nach Orientierung in einer mit Optionen gefluteten Welt. Der Unternehmenssinn soll Unternehmen also ermöglichen, eine sinnvolle Auswahl aus dem zu treffen, was sich in ihren Umwelten abspielt, und damit den eigenen Fortbestand sichern.
Nach wie vor offen bleibt dabei aber die Frage, was denn der Unternehmenssinn eigentlich ist. Ist er nur eine andere Form des bereits bekannten Mission- Statements? Was eint, was unterscheidet ihn vom Zweck eines Unternehmens? Und sollte es ihn tatsächlich geben, wo wäre er am ehesten zu finden? Aus Sicht von Anteilseignern ist der Sinn eines Unternehmens identisch mit dem Unternehmenszweck. Es geht um Profit. Punkt. Dementsprechend richtet sich der Fokus im Unternehmen weniger auf die Wünsche der Kunden als auf den Return on Invest. In vielen Kettenhotels kann man dies als Gast sehr unmittelbar erleben. Die Grundbedürfnisse an eine Hotelübernachtung werden erfüllt, aber mehr darf man nicht erwarten. Ganz anders dagegen das Erleben in manchen, meist kleineren, häufig inhabergeführten Hotels. Alle Mitarbeiter bemühen sich um das Wohlbefinden der Gäste. Es ist zu spüren, dass sich jemand Gedanken macht und vielleicht sogar Sinn darin sieht, für den Gast einen positiven Unterschied zu machen. Während der Zweck dieser Häuser, ebenso wie bei den Kettenhotels, darin liegt, Menschen eine Übernachtungsmöglichkeit zu bieten (und damit eine Rendite zu erzielen), geht es hier um einen darüber hinausgehenden Beitrag. Ein anderes Beispiel: Auf dem Hauptportal und dem Siegel der Stanford University findet sich die Inschrift: Die Luft der Freiheit weht. Dieses Motto der Universität geht auf den deutschen Humanisten Ulrich von Hutten (1488–1523) zurück und beschreibt weit mehr als den eigentlichen Zweck oder die Grundwerte dieser Bildungseinrichtung. Es bringt zum Ausdruck, was Bildung für den Lebensweg der einzelnen Studenten und damit auch für die Gesellschaft bedeuten kann. Der Unternehmenssinn benennt so gesehen die Intention eines Unternehmens und den Beitrag, den es (über den eigenen Fortbestand hinaus) in die Welt bringen will. Er beschreibt den tiefsten Grund der Existenz des Unternehmens und auch das, womit es sich von seinem Umfeld unterscheidet. Anders als die meisten Vision- und Mission-Statements fordert er Leidenschaft nicht ein, sondern ist ihre Quelle.
Nun wird man aus Führungssicht nicht einfach darauf vertrauen wollen, dass sich der Unternehmenssinn schon irgendwie unterschwellig, unbewusst, atmosphärisch und im richtigen Moment zeigen wird. Vor allen Dingen dann nicht, wenn man plant, Strukturen einzuführen, die Führungsfunktionen weniger als bisher an Führungskräften festmachen. Wie bekommt man den Sinn eines Unternehmens also eingefangen? Helmut Willke, Professor für „Global Governance“, schreibt, Sinn könne sowohl in Weltbildern, Werten, Normen, Rollen etc. eingefroren sein als auch in laufenden Interaktionen produziert oder ausgehandelt werden. Dazu bieten sich Fragen wie die folgenden an: Welchen besonderen Nutzen bieten wir unseren Kunden? Was unterscheidet uns von anderen Playern im Markt? Was würde der Welt fehlen, wenn es uns nicht gäbe? Und wenn wir richtig gut waren – womit würden wir in die Geschichte eingehen?
Kurz nach seiner Einstellung als Geschäftsführer bei FAVI rief Jean-François Zobrist alle Mitarbeiter zu einer Besprechung ein, um über den tieferen Daseinszweck der Organisation zu sprechen. Diese Suche nach der Seele des Unternehmens wurde durch eine Anfrage eines französischen Automobilproduzenten ausgelöst, die überraschend eingetroffen war: Könne FAVI in einem Jahr nicht nur Getriebegabeln, sondern auch ganze Getriebekästen liefern? Diese eine Bestellung wäre größer als der gesamte Lieferumfang von FAVI. Viele dachten, es sei zu riskant. Zobrist hatte den Eindruck, dass diese Entscheidung nicht getroffen werden konnte, ohne den Sinn der Organisation zu erforschen. Gemäß seinem Führungsstil lud er das ganze Unternehmen in diese Gespräche ein. Jeden Freitagnachmittag trafen sich Gruppen mit 15 Mitarbeitern, um darüber zu diskutieren. Zobrist kam jeweils ohne Tagesordnung und ohne einen bestimmten Prozess in diese Meetings. Stattdessen vertraute er darauf, dass sich seine Kollegen während dieser Treffen irgendwie selbst organisieren und solange wieder versammeln würden, bis diese grundlegendste Frage beantwortet war: Was ist unser Sinn? Nach vielen Diskussionen und nachdem die offensichtlichen, aber oberflächlichen Antworten abgelehnt worden waren, zeigte sich die Antwort in aller Klarheit.