In Unternehmen gilt: Nichts wird so gründlich tabuisiert wie Macht. Eine Folge davon: Führungskräfte, formal vom Unternehmen mit Macht ausgestattet, setzen sich selten bewusst mit ihrer Macht auseinander, weder mit den damit einhergehenden Einflussmöglichkeiten noch mit der bewussten Gestaltung der eigenen Verantwortung. (-> hier das Quarterly als PDF Download)
Macht hat einen wechselvollen Ruf. Sie findet sich in so gut wie allen Lebensbereichen wieder, hat vielfältige Bedeutungen und löst mannigfaltige Assoziationen aus. Dennoch oder vielleicht gerade deshalb ist selten klar, was Macht eigentlich „ist“. Ihrem Wesen nach scheint sie eher unsichtbar zu sein. Dabei wurde und wird über kaum ein anderes Phänomen unseres Alltags so leidenschaftlich moralisiert wie über Macht. Die einen bringen sie vornehmlich mit Unterwerfung, Zwang und Unfreiheit in Verbindung.
Die anderen betrachten sie als eine konstituierende Kraft, ohne die weder gesellschaftliches, noch familiäres oder wirtschaftliches Leben denkbar wäre. In Unternehmen gilt: Nichts wird so gründlich tabuisiert wie Macht. Eine Folge davon: Führungskräfte, formal vom Unternehmen mit Macht ausgestattet, setzen sich selten bewusst mit ihrer Macht auseinander, weder mit den damit einhergehenden Einflussmöglichkeiten noch mit der bewussten Gestaltung der eigenen Verantwortung. So selbstverständlich das Phänomen ist, so unklar ist der Begriff „Macht“. Wie grenzt sie sich ab von verwandten Phänomenen wie Einfluss, Kontrolle, Zwang, Herrschaft, Gewalt und wo gibt es Schnittmengen, etwa wenn wir über Autorität reden? Und welche Wechselwirkungen gibt es, beispielsweise im Verhältnis zwischen Macht und Freiheit? Wie könnte eine gegenwartsgerechte Beschreibung, insbesondere mit Blick auf die Verhältnisse in Organisationen, aussehen?
Eine eher intuitive Definition von Macht lautet in etwa wie folgt: A hat Macht über B, wenn er seinen Willen gegen den Widerstand von B durchsetzen kann. Diese Definition entspricht weitgehend dem klassischen Konzept von Macht, das sich von Thomas Hobbes (1588 –1679) bis Max Weber (1864 –1920) findet. Mit einem derartigen Machtverständnis lassen sich bis heute viele Situationen erklären, beispielsweise wenn die Supermacht USA Kriegsschiffe in Länder außerhalb ihres Hoheitsgebietes entsendet, um die eigenen Interessen durchzusetzen; der Staat einen Rechtsbruch bestraft; eine Konzernleitung die Verlegung eines Produktionsstandortes beschließt; es die süße Nachspeise erst gibt, nachdem die Kartoffeln aufgegessen wurden.
Dieses eher klassische Verständnis von Macht ist nicht weit entfernt vom Zwang, der meist mit einer unverhohlenen Drohung einhergeht. Diesem Verständnis folgend, ist Macht eine Eigenschaft, die sich von Personen oder Gruppen einfach aneignen lässt. Macht wird hier immer vom Extrem der Gewaltausübung her gedacht. Alle Formen der Einflussnahme werden von diesem Grenzfall abgeleitet, verbunden mit einer klaren Vorstellung, wer die Macht innehat und wer ihr unterworfen ist sowie einer kausalen Verbindung zwischen den beiden. Es liegt auf der Hand, dass dieses Verständnis nur eingeschränkt nützlich ist, wenn es darum geht, die Verhältnisse in modernen Gesellschaften zu erklären. Schließlich macht deren Komplexität mit ihren ungleich subtileren Erscheinungsformen als den oben beschriebenen einen erweiterten Machtbegriff erforderlich. Wenn man sich heute mit dem Thema Macht beschäftigt, kommt man an der diametral entgegengesetzten – aber nicht minder skeptischen – Betrachtung des Berliner Philosophen Byung-Chul Han nicht vorbei.
Seine Definition lässt sich in Kürze wie folgt fassen: A hat Macht über B, wenn A die Wünsche, Motive und den Willen von B mitgestalten kann. Ein widerstrebender Wille deutet diesem Konzept zufolge geradezu auf eine Schwäche von Macht. Je mächtiger die Macht, desto leiser kommt sie daher. Der Machtunterworfene folgt dem Willen des Machthabers aus freien Stücken. In diesem Konzept schließen sich Freiheit und Macht nicht aus. Ganz im Gegenteil: Die Macht ist dann am stabilsten, wenn sie das Gefühl des freiwilligen oder gar vorgreifenden Befolgens hervorruft. Han schreibt dazu: „Ohne jede Gewaltausübung nimmt der Machthaber Platz in der Seele des Anderen.“ Das Subjekt versteht sich hier nicht mehr als Gegenüber einer von außen auf ihn einwirkenden Disziplinarmacht, sondern begrüßt diese als hinzugewonnene Freiheit, die in modernen Arbeitsverhältnissen beispielsweise als zunehmender Grad an Selbstbestimmung empfunden wird. Nach diesem Verständnis hat das Management die intrinsische Motivation der Menschen okkupiert, die Macht ist bis zur Unsichtbarkeit aufgelöst.
Die negative Form der Kontrolle wird durch die Illusion der Freiheit, den positiven Impetus des Leisten-Könnens ersetzt. Han zufolge ist diese für unsere Leistungsgesellschaft typische Form der Macht um ein Vielfaches höher als die direkte Kontrolle in der Disziplinargesellschaft, da sie mehr als jede andere denkbare Form der Macht direkt und umfassend auf die Ressourcen der Menschen zugreift. Diesen aktuellen, die Auswirkungen auf Mensch und Gesellschaft skeptisch bewertenden Ausführungen muss man keineswegs uneingeschränkt folgen. Sie stehen jedoch in einer Reihe mit denen anderer großer Namen, die der Macht ebenfalls wenig Positives abgewinnen konnten. So galt für Jürgen Habermas die Überwindung von Macht und Hierarchie als Voraussetzung der Wahrheitsfindung und Jean-Paul Sartre wird zitiert mit den Worten: „Die Macht ist böse.“
Demgegenüber unterstrich der französische Philosoph und Soziologe Michel Foucault den schöpferischen und gestalterischen Aspekt von Macht. Auch seine Haltung gegenüber der Macht war zunächst sehr kritisch. Zum Ende seines Schaffens, das er zum Großteil der Erforschung von Machtsystemen widmete, beschrieb er Macht jedoch als konstituierend für Gesellschaft und Organisationen, da ohne sie kein Miteinander möglich sei. Aus dieser Schaffensphase stammt auch sein Satz, es komme darauf an, innerhalb der Machtspiele mit einem Minimum an Herrschaft zu spielen. Dies scheint uns ein Konzept zu sein, an das sich eine nützliche, gegenwartstaugliche Beschreibung für das Geschehen in Organisationen anlehnen lässt.
Im Unterschied zu den bislang beschriebenen Konzepten wird Macht hier nicht mehr länger als eine Eigenschaft von Personen, Gruppen oder Institutionen und auch nicht als etwas den Verhältnissen Inhärentes, sondern als Teil des Beziehungsgeschehens zwischen Personen und Personengruppen aufgefasst. Sie ist – so verstanden – Ergebnis von kommunikativen Aushandlungsprozessen, in denen sie den Beteiligten immer wieder aufs Neue von anderen Beteiligten zugeschrieben wird. Diese Sicht hat einen entscheidenden Vorteil: Macht wird aus der Ecke des Zwangs, der Gewalt herausgeholt. Damit lassen sich dann auch soziale Situationen erklären, in denen A Einfluss auf B hat, ohne dass es zu wie auch immer gearteten Sanktionen kommt. In freiheitlichen Verhältnissen wird Macht durch die Autorität wirksam, die jemandem zugeschrieben wird. B gestaltet und mitverantwortet Macht, indem er sie A bis auf Widerruf überlässt.
Macht reduziert die übermäßige Komplexität auf ein handhabbares Maß und ist damit auf organisationaler Ebene eine unersetzbare Kraft. Ohne Macht würden Unternehmen in Multireaktivität ertrinken. Zugleich ist offensichtlich, dass Macht weniger durch die Androhung von Sanktionen und das Brechen von Widerständen wirkt, als vielmehr über die Herausbildung von Erwartungen, über Begründungen und die Schaffung von Sinnangeboten. Wir von Process One haben die Funktion von Führung definiert als „Etablierung und Kultivierung eines zielorientierten Kommunikationssystems. Führung sorgt durch ihre asymmetrische Verteilung von Einflussmöglichkeiten ( = Macht) für die Aufrechterhaltung der Zielorientierung und die Beschleunigung der Aushandlungsprozesse zwischen den Anspruchsgruppen.“
Damit Führung dies leisten kann, ist sie nach dieser Auffassung von Macht zuallererst und ohne Alternative darauf angewiesen, dass sie fortlaufend von den Beteiligten autorisiert wird. Für die personale Seite von Führung, also auf der Ebene der Führungskraft, bedeutet dies, dass die Fähigkeit, Kommunikationsprozesse zu gestalten, in den Mittelpunkt rückt. Es geht darum, gemeinsam Wirklichkeitskonstruktionen zu erzeugen, die situations- und personenabhängig für die Beteiligten einen „Sinn“ machen.
Aus der Machtperspektive lohnt es sich zudem, in die Beziehung zwischen Führungskräften und Mitarbeitern zu „investieren“. Niklas Luhmann formuliert dazu wie folgt: „Die Macht des Vorgesetzten auf seine Untergebenen und die Macht der Untergebenen auf ihre Vorgesetzten lässt sich durch die Intensivierung der Beziehung gleichzeitig steigern.“ Die Gegenseitigkeit zeigt sich, wenn der Chef autoritär von seiner Macht Gebrauch macht, und dabei riskiert, sie zu verspielen. In der Folge kann es passieren, dass die Mitarbeiter seinen Anweisungen zwar folgen, sie jedoch schlecht ausführen, da sie sie innerlich ablehnen. Am Ende haben beide Seiten verloren.